
Spielzeit 22/23: RADIKALITÄT UND SANFTHEIT
Die Spielzeit 2022/23 widmet sich dem vermeintlich widersprüchlichen Begriffspaar Radikalität und Sanftheit. Doch könnte es gerade jetzt nützlich sein, das Aushalten von Widersprüchen, Paradoxien und Dilemmata zu trainieren, um der aktuellen Erschütterung unserer vertrauten Ordnungen besser begegnen zu können.
Momentan scheint alles zur Disposition zu stehen. Ein Gespräch über Ästhetik wirkt seltsam anachronistisch und die spielerische Demontage und Dekonstruktion von Realität auf der Bühne merkwürdig unangemessen. Mit Radikalität und Sanftheit will sich das STM den neuen Realitäten stellen, Toleranz üben und weiterhin alternative Sichtweisen und Möglichkeiten ins Spiel bringen.
Eröffnet wurde die Spielzeit 2022/23 mit einer Theaterfassung des Bestsellerromans ÜBER MENSCHEN von Juli Zeh in einer Inszenierung von Ulrich Greb, in dem es um das Aufeinandertreffen einer linksliberalen Großstädterin mit dem rechtsextremen Mlieu in einem brandenburgischen Dorf geht. Im Anschluss an jede Vorstellung stellten sich Team und Ensemble der Diskussion mit dem Publikum zu dem gezielt auch Gäst*innen eingeladen wurden, die mit rechter Gewalt am Niederrhein in Berührung gekommen sind.
Für die Uraufführung von Rosa von Praunheims anarchisch-musikalischer Groteske ZWEI FLEISCHFACHVERKÄUFERINNEN kam der junge Regisseur und Folkwang- Absolvent Damian Popp zum ersten Mal ans Schlosstheater Moers. Zusammen mit dem Musiker Jonas Schilling und der Bühnen- und Kostümbildnerin Tanja Maderner linszenierte er eine rasante Komödie, in der in Sekundenschnelle existentieller Tiefgang mit launig-ver“sau“ter Gute-Laune-Unterhaltung wechselten und das Publikum aus der Corona-Dumpfheit riss. Der nachtkritik-Kritiker Sascha Westphal formulierte: „Rosa von Praunheim, Damian Popp und das Ensemble [erweisen der Schönheit des Lebens] mit einer ungeheuren spielerischen Leichtigkeit und der Anarchie eines geradezu magischen Widerstandsgeistes ihre Reverenz.“
In der Kapelle waren die Besucher*innen in dem musikalischen Projekt von Schauspielerin und Sängerin Emily Klinge und Musiker Bernd Thiele eingeladen, sich spielerisch mit großen moralischen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Unter dem Motto SEIN ODER GUT SEIN warf das musikalische Tochter-Vater-Duo einen Blick auf die Natur des Menschen und präsentierte in der Kapelle einen musikalisch und gesanglich außergewöhnlichen Abend.
Für das Kinder- und Familienstück wurde der Autor & Regisseur Thorsten Bihegue gewonnen, das Märchen RAPUNZEL der Gebrüder Grimm umzuschreiben und zu inszenieren. Rollenklischees, veraltete Geschlechterbilder, Ansichten und Vorurteile wurden genüsslich auf den Kopf gestellt. Die Uraufführung fand für Familien, Kitas und Schulgruppen im Katholischen Jugendheim St. Barbara in Moers-Meerbeck statt und erzielte einen Publikumsrekord.
Auch in der kleinsten Spielstätte, dem Pulverhaus, gab es in dieser Spielzeit eine Produktion. Viola Köster inszenierte Soeren Voimas Dramatisierung von Jack Londons bekanntem Abenteuerroman RUF DER WILDNIS über den skrupellosen Goldrausch in Alaska um 1900 für unsere Zeit. Die Parabel auf die zerstörerischen und brutalen Mechanismen des Kapitalismus, aus denen sich Menschen, einmal zu Arbeitstieren verformt, kaum noch befreien können, war immer ausverkauft.
Welche Bedeutung hat der Tod für das Leben? Seit der Antike ist der Umgang mit der eigenen Endlichkeit ein Thema, das in der Kunst, der Philosophie und den Naturwissenschaften verhandelt wird. Das angemessene Abschiednehmen steht dagegen selten im Fokus. Wie können wir die Trennung durch den Tod gestalten und verarbeiten? Sind Menschen durch digitale Doppelgänger ersetzbar? Diese Fragen stellen sich gerade in einer Zeit der – wie es in Fachkreisen ausgedrückt wird – „Übersterblichkeit“ wie in der Coronapandemie. In der Inszenierung #VERGISSMEINNICHT von Sandra Höhne und Ulrich Greb befasste sich das Ensemble mit den Themen Sterben, Tod und Trauer in einer digitalen Welt.
Teil des Projektes war ein umfangreiches Rahmenprogramm, das in der Spielzeit 2023/24 fortgeführt wird. Vorträge und Diskussionen über die Rechtslage des assistierten Suizids, Diskurse über Trauerbewältigung, Trauerrituale in außereuropäischen Kulturen werden weitere Programmpunkte bilden. Die Ausstellung I AM NOT MY BODY der Künstlerin Vanesa Abajo Peréz wurde und wird in Moers und im Niederrheinischen Freilichtmuseum gezeigt. Für das Bürgerbeteiligungsprojekt JENSEITS VON MOERS führen Studierende der Universität Duisburg-Essen Interviews mit Bürgerinnen und Bürger aus der Region über ihre Jenseitsvorstellungen. Aus den Gesprächen erarbeitet das Ensemble für die kommende Spielzeit eine Szenische Lesung, die im Schlosstheater und im Niederrheinischen Freilichtmuseum Grefrath zu sehen sein wird. Auch eine Buchpublikation ist geplant.
Das Regieteam Susanne Zaun und Leander Ripchinsky nahm sich in der Inszenierung LOLITA des berühmtesten Romans des russisch-amerikanischen Schriftstellers Vladimir Nabokov an. Die skandalträchtige und vielschichtig obsessive, pädophile Beziehung zwischen einem alternden Schriftsteller und einem zwölfjährigen Mädchen wird aus der Perspektive der überlebenden Lolita erzählt, die anders als ihr literarisches Vorbild nicht mit 18 Jahren im Kindbett starb.
Ensemblemitglied Roman Mucha gab mit DER KELLER von Thomas Bernhard sein Abschiedssolo in der Kapelle. Mucha führte zusammen mit Viola Köster Regie. Die wahnwitzige autobiographische Erzählung über einen Menschen, der aus seinem bisherigen Leben aussteigt, um „in die entgegengesetzte Richtung“ weiterzugehen wurde zu einer schauspielerischen Meisterleistung von Roman Mucha.
Roman Mucha erhält für seine Leistungen im STM den NRW Förderpreis für junge Künstlerinnen und Künstler 2023.
Auch das Ensemblemitglied Georg Grohmann entwickelte zum Spielzeitende eine Szenische Lesung für das Studio des Schlosstheaters. Der ehemalige Student der Theologie nahm sich Baháʼu'lláhs DIE SIEBEN TÄLER aus dem 19. Jahrhundert vor und überführte den Text in einen spirituellen Abend über Frieden und die Möglichkeit der Verständigung über alle Glaubensgrenzen hinweg. Begleitet wurde er dabei von seiner Frau Lilit Grohmann-Khachatryan an der Geige und der Stimme von Ensemblekollegin Emily Klinge.