Spielzeit 20/21: Neue Normalität
Bis zuletzt waren wir unschlüssig, wie sinnvoll es ist, ein Spielzeitheft zu drucken. Zu unsicher schien es, ob wir ab September wieder spielen können und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Viel hat sich verändert in den letzten Monaten, Gewissheiten und Routinen haben ihre Gültigkeit verloren, vieles war und ist neu zu lernen und auszuprobieren.
Die neue Spielzeit liegt nun doch in gedruckter Form vor, getragen von der Hoffnung, dass ab September die Corona-Einschränkungen vorbei seien. Es ging los mit „Der Process“ von Franz Kafka, der in zunehmend kontrollierten und gläsernen Machtsystemen die Frage nach Selbstbestimmtheit und Souveränität des Einzelnen stellt. Gespielt wurde die Inszenierung in einer riesigen weißen Papierlandschaft im Wallzentrum.
Danach begibt sich „Der Bär, der nicht da war“ von Oren Lavie auf eine poetische Entdeckungsreise nach der eigenen Identität, die allerdings nicht sichtbar war, weil das Stück pandemiebedingt nicht gespielt werden durfte und auf die nächste Spielzeit verschoben wurde.
Mit der musikalischen Ensembleproduktion 21 LOVESONGS realisierte das STM seine erste Live-Stream-Inszenierung. Als sich abzeichnete, dass das Stück auf absehbare Zeit nicht vor Publikum gespielt werden kann, entstand ein Konzept, bei dem das Ensemble gemeinsam auf der Bühne, jedoch durch Plastikfolien voneinander getrennt in einzelnen Parzellen agiert und sich dabei selbst filmt. Begleitet von den Musikern Jan Lammert und Jens Lammert ist 21 LOVESONGS eine musikalische Reise durch die Gegenwart und erzählt von einer beschädigten Normalität sowie von der Sehnsucht nach Gemeinschaft und Berührung. Die Inszenierung war als Live-Stream zu erleben und erzielte von Wien bis Berlin eine bislang nicht gekannte Reichweite. Das digitale Publikum konnte sich im Live-Chat zu den Aufführungen äußern.
"Männer allein im Wald (UA)" von Susanne Zaun widmete sich dem Thema Männlichkeit(en) und verhandelte Fragen von Macht, Körpern und einem von Geschlechtszuschreibungen geprägten Zusammenleben. Der Text basiert auf Interviews, die Susanne Zaun mit Männern bei Waldspaziergängen geführt hat. Die Inszenierung wirft den Blick in eine Zukunft, in der es kein binäres Geschlechtssystem mehr gibt. Das Wallzentrum wird zum Themenpark „Men’s World“, in dem Überreste des Konzepts „Männlichkeit“ konserviert und ausgestellt werden. Das Publikum bewegt sich in coronakompatiblen Kleingruppen durch den Park und erlebt per Kopfhörer Theaterszenen hinter Schaufensterscheiben.
Im Herbst 2020 war „Walden“, eine Szenische Lesung mit Elektronischer Musik von „Recursion“ zu Henry Davids Thoreaus Klassiker von Regieassistentin Kristina Zalesskaya im Studio zu sehen. Die Szenische Lesung „Oh Du Deutscher Wald“ von Dramaturgin Viola Köster fiel zunächst dem 2. Lockdown zum Opfer und wurde im Juni 2021 nachgeholt. Die Lesereihe „Sociétee Fantastique" mit Matthias Heße und Roman Mucha konnte unter Einhaltung der Abstandsvorgaben ihre ersten drei Folgen im W – Zentrum für urbanes Zusammenleben stattfinden.
Während des 2. Lockdowns entwickelte das Ensemble verschiedene Sonderprogramme, z.B. die Literarische Soforthilfe, ein Telefonformat, in dem Spieler*innen des Ensembles Zuschauer*innen on demand Texte und Lieder vortrugen. Außerdem kleine Videofilme im Rahmen von unterschiedlichen Serien, u. a. Süße Tiervideos oder die Nachtspaziergänge. Matthias Heße war regelmäßig mit der Kunstfigur Miranda auf Facebook und Youtube zu erleben und Patrick Dollas startete eine Vielzahl an Aktionen als Traumforscher Dr. Donas. In der Reihe 21 LOVECALLS setzte das Ensemble die Literarische Soforthilfe musikalisch fort. Darüber hinaus sprachen Dramaturgin Larissa Bischoff und Theaterpädagogin Kathrin Leneke in einem Podcastformat mit unterschiedlichen Gästen über die Arbeit im Jungen STM, „W – Zentrum für urbanes Zusammenleben“, Schauspiel in Zeiten von Corona sowie Konzepte von Männlichkeit.
Der kreative Umgang mit den Herausforderungen der Corona-Krise rückte die Arbeit des STM verstärkt in den Fokus der überregionalen Wahrnehmung und trug mit zu zwei bedeutenden Auszeichnungen für das Schlosstheater bei: Das Schlosstheater Moers erhielt den mit 75.000.-€ dotierten Theaterpreis des Bundes und damit die bis dahin höchste Auszeichnung in der STM-Geschichte. Der Preis wurde am 08.07.2021 von Kulturstaatsministerin Prof. Monika Grütters in Berlin überreicht. Eine weitere Ehrung wurde Intendant Ulrich Greb zuteil, der für sein Lebenswerk den Großen Kulturpreis 2021 der Sparkassen-Kulturstiftung Rheinland erhielt.
